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Mit dem Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz (BMJ)1 zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof (BGH) setzt der Gesetzgeber seine Bestrebungen zur Effektuierung der privaten Rechtsdurchsetzung und Entlastung der Justiz in Bezug auf Massenverfahren fort.
Massenverfahren kennzeichnen sich einerseits durch das Auftreten einer Vielzahl von Klägern und/oder Beklagter in einer Reihe von Einzelklagen bei diversen Gerichten. Andererseits stellen sich im Rahmen solcher Verfahren oftmals rechtlich gleich oder ähnlich gelagerte Fragen, die dennoch in jedem Zivilverfahren separat zu behandeln sind. Naturgemäß folgt hieraus eine erhebliche Belastung der Justiz, welche sich insbesondere in Verfahrensverzögerungen sowie erhöhten Krankenständen manifestiert, und somit einen effektiven Rechtsschutz erschweren kann.2 Beispielhaft für diese Entwicklung stehen die allseits bekannten und schier unzähligen Klagen im Rahmen des sog. Dieselskandals oder der Geltendmachung von Fluggastrechten.3Neben der Forderung nach einer besseren Ausstattung der Gerichte (sowohl personell als auch mit Softwarelösungen) gab es daher auch den zunehmenden Appell aus Justiz und Wissenschaft, gesetzgeberisch tätig zu werden.4
Ein Rechtsinstitut wie die im US-amerikanischen Recht existierenden Class-Action Lawsuits wurde in Deutschland bis zuletzt bewusst nicht eingeführt. Die Behandlung von Massenverfahren ist hierzulande bislang vielmehr fragmentarisch und zurückhaltend durch das Kapitalanlegermusterverfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) sowie der Musterfeststellungsklage in den §§ 606 ff. ZPO geregelt. In Umsetzung5 der sog. EU-Verbandsklagerichtlinie6 beabsichtigt der Gesetzgeber, letztere in ein separates Gesetz7 zu überführen und durch eine „Verbraucher-Sammelklage“ (sog. Abhilfeklage) zu ergänzen, die – anders als bisher – die unmittelbare gerichtliche Durchsetzung gleichartiger Leistungsansprüche von Verbraucherinnen und Verbrauchern8 ermöglicht.
Zur Beschleunigung der auch weiterhin anhängigen und bevorstehenden Einzelklageverfahren in ähnlich gelagerten Konstellationen soll darüber hinaus nunmehr ein Leitentscheidungsverfahren beim BGH eingeführt werden: Aus den in einem Massenverfahren eingelegten Revisionen kann der BGH fortan ein geeignetes Verfahren auswählen, um grundsätzliche Rechtsfragen, die möglichst viele Parallelverfahren betreffen, zu behandeln. Die darin getroffenen Feststellungen sollen sowohl Rechtsschutzsuchenden als auch Gerichten als Orientierungshilfe dienen. Das Regelungsvorhaben stellt sich wie folgt dar:
Der BGH als Revisionsgericht soll aus den mehreren anhängigen Revisionsverfahren nach Eingang der Revisionserwiderung bzw. Ablauf der hierfür gesetzten Frist eine oder mehrere Revisionssachen durch Beschluss als Leitentscheidungsverfahren bestimmen, um ein möglichst breites Spektrum offener Rechtsfragen, deren Entscheidung für eine Vielzahl weiterer Verfahren relevant ist, behandeln zu können (vgl. § 552b ZPO-E). Die Entscheidung, die der BGH in diesem Verfahren trifft, soll den Instanzgerichten und der Öffentlichkeit eine Orientierung zur Entscheidung der behandelten rechtlichen Fragestellungen geben.9
Die Rechtsfragen sollen grundsätzlich – wie bisher – zwischen den Parteien in einem Revisionsverfahren durch Revisionsurteil entschieden werden. Eine Entscheidung durch Beschluss soll aber auch dann noch ergehen können, wenn sich das Verfahren anderweitig als durch Urteil nach den §§ 561 ff. ZPO (etwa durch Rücknahme der Revision infolge eines Vergleichsschlusses) „erledigt“ hat, vgl. § 565 ZPO-E. Damit soll dem Phänomen der „Flucht in die Revisionsrücknahme“ zur prozesstaktischen Vermeidung bzw. Herausbildung einer höchstrichterlichen Entscheidungslinie entgegengewirkt werden.10 Die auf diese Weise im Leitverfahren ergangenen Entscheidungen entfalten allerdings keinerlei rechtliche Bindungswirkung – auch nicht für die (ehemaligen) Parteien des Revisionsverfahrens.
Daneben soll – das Einverständnis der Parteien vorausgesetzt – die Möglichkeit bestehen, Parallelverfahren bis zur Leitentscheidung des BGH auszusetzen, um die Rechtseinheit unter größtmöglicher Wahrung des Dispositionsgrundsatzes gewährleisten zu können.
Das Ziel einer gewissen „Verschlankung“ von Massenklageverfahren ist grundsätzlich zu begrüßen. Gerade weil Massenklagen in Deutschland derzeit noch von der grundsätzlichen Selbstständigkeit der einzelnen Verfahren geprägt sind, erscheinen Reformierungen geboten, um eine möglichst effiziente Erledigung bei gleichzeitiger Ermöglichung richtungsweisender höchstrichterlicher Rechtsprechung und Rechtsfortbildung zur Rechtsvereinheitlichung zu gewährleisten.11 Zudem wird durch die Eröffnung des Leitentscheidungsverfahren die bereits jetzt verbreitet verfolgte Praxis des BGH zur Publikation von Hinweisbeschlüssen in Revisionsverfahren überflüssig und in ein geordnetes Verfahren überführt, welches das Gebot rechtlichen Gehörs bestärken kann.
Allerdings ist fraglich, ob es tatsächlich zu der (wohl auch fiskalpolitisch) erwünschten Entlastung der Gerichte, einer Verfahrensbeschleunigung und rascherer Rechtssicherheit kommen wird.
Insoweit ist zu beachten, dass das Regelungsvorhaben die prozesstaktische Einflussnahme auf den Verfahrensbestand zur Vermeidung richterlicher Entscheidungen nur begrenzt wird verhindern können: Denn die geplanten Regelungen sehen vor, dass dies durch das Leitentscheidungsverfahren bei dem BGH erst unterbunden werden kann, sobald die Revisionserwiderungsfrist abgelaufen ist. Dies hat die unvermeidliche Konsequenz, dass seitens der Parteien das Verfahren vor diesem Zeitpunkt beendet werden kann, und somit wiederum eine höchstrichterliche Entscheidung vermieden wird. Die dargestellten taktischen Erwägungen, die bereits jetzt – auch in den vorherigen Instanzen – in gehörigem Umfang praktiziert werden, dürften sich daher verstärkt dorthin verlagern und nicht zu einer breiten Entlastung der Justiz führen.12
Aufgrund mangelnder Flexibilität nicht ausreichend interessengerecht erscheint weiterhin die geplante Aussetzungsmöglichkeit insbesondere für die in den Vorinstanzen anhängigen Verfahren (vgl. den Verweis auf § 149 Abs. 2 ZPO in § 148 Abs. 4 ZPO-E).13 Denn eine Aussetzung setzt das Einverständnis beider Parteien voraus, welche diejenige Partei, die die (faktische) Präzedenzwirkung einer höchstrichterlichen Entscheidung vermeiden will, nur in den seltensten Fällen erteilen dürfte.
Als problematisch könnte sich ferner die gesetzliche Beschränkung der Revision auf reine Rechtsfragen erweisen. Ändert sich die Tatsachengrundlage im Laufe weiterer, ausgesetzter Verfahren substantiell, würde eine vorher ergangene Leitentscheidung des BGH schlechterdings an Bedeutung verlieren und so ihre vom Gesetzgeber erstrebte Intention verlieren.
Vermieden werden sollte zudem, dass Verfahrensrechte der Parteien durch das Leitentscheidungsverfahren unnötig beschnitten werden.14 Für den Einzelnen darf es schon von Verfassungs wegen keinen Unterschied machen, ob in ähnlicher Sache zahlreiche weitere anhängige Verfahren bestehen oder nicht. Die auch nach Rücknahme der Revision weiterhin mögliche Entscheidung des BGH im Leitentscheidungsverfahren ist im Hinblick auf essentielle Verfahrensrechte aufgrund der mangelnden Bindungswirkung der gefällten Entscheidung jedoch kaum bedenklich. Dennoch dürfte sie aber geringe praktische Bedeutung entfalten, da die Parteien im Rahmen des regulären Revisionsverfahrens, welches auch bei Leitentscheidungen durchgeführt wird, ein eigenes Interesse daran haben werden, von ihren Einflussmöglichkeiten – etwa bei Rechtsgesprächen im Rahmen der mündlichen Verhandlung – Gebrauch zu machen.
Jedenfalls solange in Deutschland an der grundsätzlichen Selbständigkeit vieler Verfahren in gleichgelagerten Fällen festgehalten wird, bleiben die avisierten Reformbestrebungen auch mit dem dargestellten Entwurf des BMJ fragmentarisch. Dass die vorgeschlagenen Regelungen einen „Gamechanger“ darstellten, ist daher eher nicht zu erwarten.
Nachteilig sind aus Sicht der effektiven Privatrechtsdurchsetzung neben dem per se begrenzten Anwendungsbereich des Leitentscheidungsverfahren die mangelnde rechtliche Verbindlichkeit, womit sich das Leitentscheidungsverfahren im Ergebnis in die Mechanismen bestehender Rechtsinstitute wie der Musterfeststellungsklage und dem Kapitalanlegermusterverfahren einreiht. Gleichwohl werden die Regelungen, sofern sie in der derzeitigen Form umgesetzt werden, zumindest in einem gewissen Umfang zur Entlastung des BGH und einer möglichen Rechtsvereinheitlichung beitragen können. Da die Bedeutung von Massenverfahren insbesondere wegen der kontinuierlich steigenden Zahl wirtschaftsregulierender und verbraucherschützender Vorschriften weiter zunehmen wird, dürfte das Ziel einer Entlastung der Justiz auch in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen. Das Leitentscheidungsverfahren beim BGH wird daher wohl nicht die letzte gesetzgeberische Initiative in diesem Bereich bleiben.
Verfasst von Julius Fabian Stehl, Felix Dobiosch.