Vom "Arbeiterkind" zur Führungskraft: Unser Anwalt Nico Kuhlmann ist in einem kleinen Dorf in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen und arbeitet heute als Senior Associate an unserem Hamburger Standort.
Seine Eltern haben ihn immer seinen Weg gehen lassen, sagt Nico. Wie dieser Weg im Detail aussah und warum er ausgerechnet in einer Großkanzlei Fuß gefasst hat, erzählt er im Interview.
Was hast Du studiert? Mit Erfolg?
Ich habe Rechtswissenschaften sowie Wirtschaftswissenschaften in Bayreuth in Bayern studiert. Zwischendurch war ich für ein Erasmus-Semester in Finnland sowie unter anderem auch für ein Jahr in den USA. Abgeschlossen habe ich das Studium mit dem Ersten Staatsexamen als Zweitbester des Jahrgangs und einem Doppeldiplom als Jurist und Wirtschaftsjurist. Danach habe ich mein Referendariat in Hamburg absolviert. Unter anderem mit Stationen am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, in der Rechtsabteilung von Google und bei einer großen Wirtschaftskanzlei im Silicon Valley. Auch das zweite Staatsexamen war dann ein sogenanntes Prädikatsexamen und ich gehörte wieder mit zu den Besten meines Jahrgangs.
War es leicht, Deine Familie zu überzeugen, einen anderen Weg einzuschlagen, als sie selbst?
Ja. Ich musste niemanden überzeugen. Meine Eltern haben mich immer meinen eigenen Weg gehen lassen. Insbesondere meine Mutter hätte damals wohl selbst gern studiert, aber mein Großvater hat sie als Frau nicht gelassen. Das waren eben noch andere Zeiten damals. Am Abend des Examensballs vom ersten Staatsexamen haben mir meine Eltern dann offenbart, dass sie nach meinem Schulabschluss abends miteinander diskutiert hatten, ob sie mir meinen Studienwunsch ausreden sollten. Sie hatten befürchtet, dass ich das nicht schaffe. Im Ergebnis haben sie sich aber – wie immer – dafür entschieden, „mich meine eigenen Fehler machen zu lassen“. Ich habe auch einen ziemlichen Dickkopf und ihnen war wohl auch klar, dass ich mich eh nicht hätte umstimmen lassen. Nachdem ich dann an dem Abend als Zweitbester des Jahresgangs ausgezeichnet wurde, konnten wir alle herzlich über diese Anekdote lachen.
Haben Deine Eltern Dich bei Deinem beruflichen Weg unterstützt? Wenn ja, wie?
Meine Eltern haben mich immer in allem unterstützt. Sie konnten es nicht immer nachvollziehen und gelegentlich hat ihnen auch der Überblick gefehlt, um realistisch abzuschätzen, was ein konkretes Vorhaben von mir bedeutet. Aber meine Eltern standen immer und insbesondere auch bei meinem beruflichen Werdegang hinter mir und haben mich von der Seitenlinie aus angefeuert. Ich hab während des Studiums von BAföG und vom Kindergeld gelebt, das meine Eltern mir weitergeleitet hatten. Zudem haben meine Eltern von dem wenigen Geld, das sie hatten, immer noch was oben drauf gelegt (das restliche Geld habe ich mir mit Studentenjobs dazuverdient oder eben Kredite aufgenommen, insbesondere für die Studiengebühren und Auslandsaufenthalte). Neben dem Geld war die wichtigste Unterstützung aber vermutlich die Gewissheit, dass meine Eltern an mich glauben und mich nach Möglichkeit immer unterstützen – auch wenn es „nur“ aufmunternde Worte am Telefon waren.
Hast Du als Arbeiterkind in Deiner Ausbildung oder Laufbahn einen großen Nachteil gegenüber Akademikerkindern empfunden? Wenn ja, welchen?
Es hat Vor- und Nachteile, als Arbeiterkind zu studieren. Ein Vorteil war, dass ich von zu Hause gar keinen Druck hatte. Das habe ich bei Kommiliton*innen auch anders erlebt, insbesondere wenn die Eltern selbst Jurist*in waren und dadurch den Stoff selbst zumindest teilweise beherrschten. Dann gab es nach schlechten Klausuren schon mal Sprüche, dass „man so was doch wissen müsse“ oder dass man selbst „damals zu dem Zeitpunkt schon weiter war“. Meine Eltern haben bis heute weder vollständig verstanden, was ich eigentlich den ganzen Tag mache, noch wie damals das Notensystem bei rechtswissenschaftlichen Klausuren funktioniert hat (es gibt 0 – 18 Punkte, ab 4 Punkten hat man bestanden, alles ab 9 Punkten ist quasi eine 1 im Sinne der Schulnoten). Wenn ich dann damals im Studium eine Klausur wiederbekommen habe, hat meine Mutter nicht die Note interessiert, sondern nur, ob ich zufrieden bin. Wenn ich das bejaht habe, war sie stolz auf mich, und wenn ich es verneint hatte, dann hat meine Mutter mir erzählt, dass Noten nicht alles im Leben sind und dass die nächste Klausur bestimmt wieder besser werden wird.
Ein Nachteil von Arbeiterkindern ist gegebenenfalls die eingeschränkte Fähigkeit, sich leichtfüßig auf dem beruflichen Parkett bewegen zu können. Das ist weniger an der Universität relevant, spielt aber bei Praktika oder Vorstellungsgesprächen eine wichtige Rolle. Welche Kleidung ist angemessen und welche nicht? Und habe ich passende Kleidung zu Hause oder muss ich erst günstig irgendwo was kaufen? Wie begrüße ich meine Gesprächspartner*innen, mit welcher Anrede und in welcher Reihenfolge? Wie interagiere ich mit den Vorgesetzten und wie mit den Kolleg*innen. Wenn man damit aufgewachsen ist, dass Professor*innen, Ärzt*innen oder Anwält*innen zu Hause in freundlicher Runde am Abendbrottisch sitzen und man über die aktuellen Weltgeschehnisse diskutiert, dann geht einem so was vermutlich leichter von der Hand. Ich kann mich aber beispielsweise auch an einen Bewerber erinnern, der einen schlecht sitzenden Anzug mit nicht zum Anzug passenden Schuhen trug. Zu allem Überfluss hatte der Bewerber ein Hemd für Manschettenknöpfe an, aber leider hatte ihm niemand gesagt, dass man solche Hemden zwingend auch mit Manschetten tragen muss, was er nicht getan hat, sodass die Ärmel viel zu lang waren und lose über die Hände hingen. Das war natürlich kein idealer erster Eindruck. Ich selbst weiß noch, wie ich während meiner Ausbildung in den USA von einer Kanzlei zum Kennenlernen in ein teures Restaurant in Washington D.C. eingeladen wurde und es Hummer gab. Weder hatte ich in meinem Leben jemals Hummer gegessen, noch wusste ich, wie man das spezielle Besteck dafür verwendet. Ich habe dann den Anwalt neben mir leise und freundlich gefragt, ob er mir kurz erklären könnte, was ich zu tun habe. Das hat er auch gemacht, ohne das die anderen es groß mitbekommen haben. Aber es war mir natürlich unangenehm.
Wie bist Du damit umgegangen?
Fehlende Erfahrung kann man nicht ersetzen, Erfahrungen muss man selbst machen. Als ich gemerkt habe, dass ich sicherer werden muss in der Gegenwart von Menschen, die dunkle Anzüge mit Krawatte tragen, bin ich eine Zeit lang nach meinem Ersten Staatsexamen auf jede passende Veranstaltung gegangen, die ich finden konnte. Hände schütteln, Small Talk halten und beobachten, wie sich andere verhalten. Zu der Zeit habe ich mich sogar in die Originalauflage von Knigges „Über den Umgang mit Menschen“ eingelesen. Irgendwann hat man den Dreh dann ungefähr raus, aber am Anfang muss man erst mal über seinen Schatten springen, wenn man nicht aus dieser Welt kommt.
Mit wie vielen Jahren hast Du Deine erste Führungsposition angetreten? Was arbeitest Du heute?
Nach den beiden Staatsexamen habe ich mit Anfang 30 als Rechtsanwalt direkt in einer der größten Wirtschaftskanzleien der Welt angefangen. Diesen Job habe ich noch heute. Ich berate hauptsächlich internationale Tech-Konzerne und NGOs aus dem Tech-Bereich zu Fragen des geistigen Eigentums. Im Alltag beschäftige ich mich viel mit internationalem Markenschutz und aktuell auch viel mit dem Digital Services Act (DSA) der EU.
Direkt in meiner ersten Arbeitswoche als Anwalt wurde ich gefragt, ob ich die Betreuung der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und Referendar*innen übernehmen kann, was ich gern gemacht habe. Dass ich gefragt wurde, lag wohl auch daran, dass ich ein wenig Lebenserfahrung mit in den Job gebracht habe. In dieser Rolle delegiere und kontrolliere ich seitdem nicht nur die Arbeit, sondern stehe vor allem auch als Ansprechpartner für alle möglichen Anliegen zur Verfügung und versuche durch entsprechende Lerneinheiten und Feedbackrunden die Lernkurve der Mitarbeitenden aufrechtzuerhalten.
In den Jahren danach wurde ich dann in immer größere Projekte eingebunden. Mittlerweile bin ich Mitte 30 und manage aktuell ein weltweites Projekt für einen großen US-amerikanischen Mandanten aus der Tech-Industrie. In dieser Rolle koordiniere ich dutzende Rechtsanwält*innen von uns aus der ganzen Welt von der Westküste der USA bis teilweise nach China, um dem Mandanten im Ergebnis die Arbeitsprodukte zur Verfügung stellen zu können, die gebraucht werden. Das ist durch die verschiedenen Zeitzonen, Muttersprachen und kulturellen Prägungen durchaus herausfordernd. Aber es klappt schon. Einer meiner Vorgesetzten hat mich neulich im Rahmen dieses Projekts für meine „zupackende Art“ über die internen Hierarchiestufen hinweg gelobt. Es hilft natürlich, wenn man irgendwann verstanden hat, dass alle anderen auch nur mit Wasser kochen.
Vielen Dank für das Interview!